herzlich willkommen zum Briefing aus der Hauptstadt – direkt von der Pioneer One.
Unsere Themen heute:
Die Union hat es vergeigt, jetzt muss FDP-Chef Christian Lindner mit Rot-Grün ernsthaft sondieren. Wir sagen, wie es weitergeht.
Ärger zwischen Brandenburg und Weißrussland. Die CDU wirft dem autokratisch regierten Land eine "künstlich produzierte Flüchtlingswelle" vor.
Wer wird Bundestagspräsident? Wahrscheinlich ist, dass die Union nur noch einen Platz im Präsidium bekommen soll und Wolfgang Schäuble in die hinteren Reihen rückt.
Die Ampel-Verhandlungen beginnen
Den City Cube am Berliner Messegelände kennen die Sozialdemokraten gut: Zahlreiche Bundesparteitage haben in den vergangenen Jahren dort stattgefunden, oft ging es um Krisenbewältigung, um Erneuerung.
Wenn am heutigen Donnerstagmorgen die Sozialdemokraten zunächst zur Vorbesprechung, dann zu den Gesprächen mit den Ampel-Partnern in den Westen der Hauptstadt fahren, geht es für sie um einen Neuanfang in der Regierung.
Nach 16 Jahren Angela Merkel beginnt das erste Treffen einer möglichen Nachfolge-Koalition.
Angesetzt sind zunächst sechs Stunden.
City Cube © ImagoDass die Wahl auf den City Cube fiel, hatte vor allem praktische Gründe: Neben der eigentlichen Veranstaltungshalle befinden sich auf einer Ebene des Gebäudes mehrere diskrete Konferenzräume, die angemietet wurden. So können nicht nur Gespräche der drei beteiligten Parteien geführt werden - auch getrennte Beratungen sind möglich.
Für die SPD kündigte Kanzlerkandidat Olaf Scholz gemeinsam mit den beiden Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans am Mittwochnachmittag den Termin an.
Es war mit rund drei Minuten Länge eine denkbar kurze Pressekonferenz. Fragen waren nicht zugelassen - was unter den anwesenden Journalisten für lauten Unmut sorgte und später intern in der SPD ebenfalls kritisch diskutiert wurde.
Denn jeder im Willy-Brandt-Haus weiß: Ab jetzt kommt es auch darauf an, die versprochene Vertraulichkeit nicht in übertriebene Verschlossenheit zu verwandeln.
Olaf Scholz am Mittwoch im Willy-Brandt-Haus © dpaFür die FDP indes waren die inneren Probleme der Union ein Hauptgrund für den Schwenk zur Ampel. Man habe in der Öffentlichkeit, aber auch bei der eigenen Klientel kaum noch Argumente gefunden, warum ein Bündnis mit der Union derzeit verlässlich funktionieren könne, heißt es in der FDP-Führung. Die Union müsse sich jetzt erstmal sortieren.
"Wir zwingen uns jetzt ein bisschen zur Ampel", sagte uns ein FDP-Verhandler. Aber das könne trotzdem auch ein gutes Bündnis für Deutschland werden.
Große Verärgerung herrscht bei den Liberalen über die CSU. Deren Chef Markus Söder hatte anders als der CDU-Vorsitzende Armin Laschet von einer "Vorentscheidung" für die Ampel gesprochen. Die Union sei "kein Ersatzrad".
Seine Botschaft: Grüne und FDP hätten weitere Gespräche ausgeschlagen.
„Wenn einer gerade die Tür zuzumachen versucht, dann ist es Söder, nicht wir“, sagte uns ein FDP-Vorstandsmitglied. Der CSU-Chef wolle Jamaika einfach nicht. Dabei bestehe die Option weiterhin.
Bei den Liberalen heißt es, man habe eine „Reihenfolge“ für die Gespräche festgelegt, aber „keine Vorentscheidung“ getroffen. Es gelte, „Pendeldiplomatie“ zu vermeiden. Parallelgespräche seien nicht der richtige Weg.
Christian Lindner und Volker Wissing © dpaIn den kommenden Tagen und Wochen will das Tandem Christian Lindner und Volker Wissing den kommunikativen Prozess für die FDP steuern.
Interviews sollen nur der Parteichef und der Generalsekretär geben, die Vertraulichkeit und eine geschlossene, einheitliche Kommunikation seien nun wichtig, heißt es bei der FDP.
Fachpolitiker der Liberalen rätseln darüber, wie schnell die Zeit für den Übergang in Koalitionsgespräche mit Arbeitsgruppen reif sein könnte. Es müsse zügig verhandelt werden, sagt ein Unterhändler: „Wir wollen, dass die Neujahrsansprache nicht noch einmal von Angela Merkel gehalten werden muss.“
Annalena Baerbock und Robert Habeck bei ihrer Pressekonferenz am Mittwoch © dpaDie Grünen werden heute mit ihrem zehnköpfigen Sondierungsteam an dem Gespräch teilnehmen.
Angeführt von Annalena Baerbock und Robert Habeck, sind darunter auch die Fraktionschefs Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter, die Parlamentarische Geschäftsführerin Britta Haßelmann und Bundesgeschäftsführer Michael Kellner. Außerdem: Vizechefin Ricarda Lang und Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth sowie Ministerpräsident Winfried Kretschmann und der Europa-Politiker Sven Giegold.
Die Grünen erwarten besonders harte Verhandlungen mit SPD und FDP um das Vorziehen des Kohleausstiegs und das Aus für den Verbrennungsmotor: Beides Themen, bei denen die Grünen gegenüber ihrer Basis in der Pflicht stehen. Das Verhandlungsteam ist jedoch entschlossen, sich nicht in Spiegelstrich-Debatten zu verlieren, heißt es.
Derweil erarbeiten 16 vornehmlich aus Fraktionsmitgliedern zusammengesetzte Arbeitsgruppen Papiere, die in womöglich bald startende Koalitionsverhandlungen einfließen sollen. Diesen müsste jedoch zuvor noch ein Parteitag zustimmen.
1. Bundestagspräsidium: Laschet und Söder unterschreiben kuriose Formulierung
Im Fraktionsstatut der CDU/CSU für die neue Legislaturperiode findet sich eine Formulierung, die stutzig macht: Demnach wolle die CDU den Präsidenten für den neuen Bundestag vorschlagen - obwohl die SPD die stärkste Fraktion stellt und damit das Vorschlagsrecht hat.
“Von den von der CDU/CSU vorzuschlagenden Mitgliedern des Präsidiums des Deutschen Bundestags schlägt die CDU den Präsidenten, die CSU einen Vizepräsidenten vor”, heißt es in dem uns vorliegenden Statut unter Punkt 7.
Und weiter heißt es:
In jedem Fall gehen CDU und CSU davon aus, dass sie jeweils mit einem Mitglied im Präsidium des Deutschen Bundestags vertreten sind.
Auch der zweite Teil ist durchaus gewagt:
Eigentlich ist vorgesehen, dass jede Fraktion im Bundestag nur einen Vizepräsidenten stellt, die stärkste zusätzlich den Präsidenten oder die Präsidentin. Aktuell deutet wenig darauf hin, dass es dieses Mal zu Gunsten der Union eine Ausnahme geben sollte.
Ausriss Fraktionsstatut © ThePioneerTrotz der eigenartigen Formulierung haben CDU-Chef Armin Laschet und CSU-Chef Markus Söder das Statut am 28. September unterschrieben.
Auf Nachfrage relativierten sich in der Union jedoch die formulierten Ansprüche.
Uns gegenüber hieß es, der Text sei genauso wie in den vergangenen Wahlperioden. Auch 1998 und 2002, als CDU und CSU gemeinsam in der Opposition waren, habe es keine andere Formulierung gegeben.
Die Union akzeptiere selbstverständlich, dass die SPD als größte Fraktion das Vorschlagsrecht für das Amt des Bundestagspräsidenten habe.
Aus der CSU verlautet, man gehe davon aus, künftig nicht mehr mit einem Vertreter im Bundestagspräsidium vertreten zu sein.
2. FDP will zwischen Union und Grünen sitzen
Am Dienstag, dem 26. Oktober, tritt der neue Bundestag zum ersten Mal in der neuen Legislaturperiode zusammen. Die FDP-Fraktion, die auf 92 Abgeordnete angewachsen ist, will dann nicht mehr neben der AfD sitzen, wie wir in Fraktionskreisen hören.
Bisher sitzt die Fraktion vom Rednerpult aus gesehen links neben der AfD, die wiederum außen Platz genommen hat.
Schon 2017 hatten die Liberalen vergeblich versucht, zwischen Grünen und Union sitzen zu dürfen.
Nun will der Parlamentarische Geschäftsführer der Fraktion, Marco Buschmann, das Thema erneut bei der Sitzung des Vorältestenrats ansprechen.
Mit einer Ampel-Mehrheit könnte die Sache zu Gunsten der Freien Demokraten entschieden werden, heißt es.
3. Empörung über von Weißrussland „künstlich produzierte Flüchtlingswelle“
Michael Stübgen © ImagoBrandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU) schlägt Alarm angesichts von immer mehr Flüchtlingen, die über die deutsch-polnische Grenze kommen. „Wir haben es hier mit einer künstlich produzierten und perfide organisierten Flüchtlingswelle zu tun“, sagte uns Stübgen. „Der Urheber sitzt in Minsk in Weißrussland und heißt Lukaschenko.“
Der Diktator versuche, die Europäische Union „mit Flüchtlingen als Waffe“ zu erpressen. „Wir haben es hier mit Menschenhandel der schlimmsten Art zu tun“, sagte der CDU-Politiker weiter und forderte Konsequenzen: „Die Europäische Kommission aber auch Deutschlands Außenminister müssen sich fragen, wie lange sie diesem Treiben noch zusehen wollen.“
Bislang sind in Brandenburg im laufenden Jahr 4.400 ankommende Flüchtlinge registriert worden - rund 1.500 davon allein im September.
4. Bayern will „Inflationsbremse“ über den Bundesrat durchsetzen
Der Bundesrat soll nach dem Willen der bayerischen Staatsregierung an diesem Freitag eine „Inflationsbremse“ beschließen.
„Die Sparerinnen und Sparer leiden schon seit langem unter den Nullzinsen. Hinzu kommt der aktuelle Preisauftrieb“, sagte uns Florian Herrmann (CSU), Chef der bayerischen Staatskanzlei.
Andauernde Inflation führt zu einer schleichenden Enteignung der Mittelschicht. „Wir brauchen deshalb eine Inflationsbremse, um der drastischen Teuerung energisch entgegen zu treten und den Preisanstieg abzufedern“, so der bayerische Bundesratsminister.
Der Bundesrat © ImagoKonkret sieht die Bundesratsinitiative Folgendes vor:
Ein geregelter Ausstieg der Europäischen Zentralbank „aus dem geldpolitischen Krisenmodus“ und eine Abkehr von ihrer Nullzinspolitik
Die Absenkung von Stromsteuer und EEG-Umlage, außerdem eine Kopplung der Pendlerpauschale an die Kraftstoffpreise
Steuer-Vorteile für Sparer, unter anderem mit einem höheren Pauschbetrag und der Wiedereinführung einer vollständigen Steuerbefreiung für Einmalauszahlungen aus Lebensversicherungen
Wolfgang Schäuble wird die konstituierende Sitzung des Bundestags als dienstältester Bundestagsabgeordneter - der CDU-Mann ist seit 49 Jahren im Parlament - eröffnen, doch danach wohl ins zweite Glied rücken.
Die SPD hat als größte Fraktion im Bundestag das Anrecht auf den Präsidentenposten, der bisherige SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich ist dafür im Gespräch.
Schäuble will indes als Vize-Präsident des Bundestages nicht mehr antreten, selbst wenn ihn die CDU/CSU-Fraktion dafür nominieren würde.
"Der macht nicht den Wolfgang Thierse", sagt einer, der Schäuble gut kennt.
Der ehemalige SPD-Bundestagspräsident Thierse hatte sich nach der Wahlniederlage der SPD 2005 auf den Vizeposten im Bundestag gerettet.
Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus, der kein besonders gutes Verhältnis zu Schäuble pflegt, will angeblich mit CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt eine andere Person für die Union nominieren.
Wolfgang Schäuble hatte vergangene Woche schon in der Sitzung des Fraktionsvorstandes gesagt:
"Ich werde ein einfacher Abgeordneter sein."
Vom 1. bis zum 12. November 2021 findet im schottischen Glasgow die nächste UN-Klimakonferenz statt. Eine neue Bundesregierung wird es bis dahin kaum geben.
Doch der bisherigen, geschäftsführenden Regierung Deutschlands kommt bei der Konferenz auch eine Rolle zu.
Umweltstaatssekretär Jochen Flasbarth soll Bericht erstatten, was aus einem bereits 2009 gegebenen Versprechen der Industriestaaten geworden ist.
Sie hatten zugesagt, ab 2020 mindestens 100 Milliarden US-Dollar an die Entwicklungsländer zu zahlen - zur Finanzierung von Klimaschutz-Projekten. 2019 lagen die Zahlungen bei 80 Milliarden Dollar.
© ThePioneerAuf - Saskia Esken. Die SPD-Chefin ist eine der Gewinnerinnen der vergangenen Wochen, sie hat ihren Beitrag zum Wahlerfolg der Partei geleistet. Jetzt lässt die Bundestagsabgeordnete im Tagesspiegel Ambitionen auf mehr durchblicken - in ihrem Bereich Bildung und Digitales. Esken fordert eine bessere Aufklärung über Facebook in Schulen. Der Umgang mit digitalen Medien müsse “dringend Bestandteil schulischer Bildung sein”, sagte Esken nach den jüngsten Enthüllungen zu den Geschäftspraktiken von Facebook. Die Aussagen der ehemaligen Facebook-Mitarbeiterin Frances Haugen zeigen nach Ansicht der SPD-Chefin, wie wichtig für die Politik der Kampf gegen Hass und Hetze, Diskriminierung und Gewalt in sozialen Netzwerken ist. Für Esken geht es aufwärts.
Ab - Armin Laschet. Während der CDU-Chef gestern hervorhob, dass die Union zu weiteren Sondierungsgesprächen bereit sei, gehen immer mehr Unionspolitiker von einer Ampel-Koalition aus. Der “gesellschaftliche Auftrag gehe eher an die Ampel”, sagte Markus Söder und machte damit Laschets Chancen auf eine Kanzlerschaft endgültig zunichte.
CDU-Wirtschaftsminister Peter Altmaier twitterte: “Soeben hat der Ampel-Zug den Bahnhof verlassen”. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt griff diese Metapher auch in seinem Statement auf. “Der Zug, den die Grünen und die FDP heute aufs Gleis gesetzt haben, der wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch sein Ziel erreichen”, sagte Dobrindt. Es scheint, als wolle sich in der Union niemand mehr hinter Armin Laschet stellen. Unser Absteiger.
Die CDU steckt in einem Dilemma: Einerseits kann sie ihren Chef Armin Laschet nicht absetzen, da es dann keinen Anführer für immer noch mögliche Jamaika-Verhandlungen geben würde. Andererseits wollen viele in der Partei eine Erneuerung. Und so bringen sich alte Bekannte ins Spiel. Kevin Hagen hat die Chancen von Norbert Röttgen, Friedrich Merz und Jens Spahn für den Spiegel analysiert. Während Merz verstärkt auf die Parteibasis setzen dürfte, wird sich Spahn wahrscheinlich eher auf sein Netzwerk in höheren Parteikreisen verlassen. Röttgen wiederum wäre vermutlich Lieblingskandidat der Grünen, werde in der Union aber von vielen noch mit Skepsis betrachtet, schreibt Hagen. Den ganzen Artikel können Sie hier lesen.
Die Union als Hebamme einer Ampel-Koalition. So kommentiert Reinhard Müller in der FAZ die Entscheidung von Grünen und FDP, in Sondierungsgespräche mit der SPD zu gehen. Gerade Markus Söder habe zuletzt kein wirkliches Interesse mehr an einer Regierungsbeteiligung von CDU und CSU gezeigt. Ihm sei es zuletzt mehr darum gegangen, Armin Laschet zu verhindern. Müller glaubt, dass die Union wohl länger als die nächsten vier Jahren in der Opposition sitzen werde. “Eine Chance zur Erneuerung, die niemand wollte”, schreibt er. Die FDP müsse jetzt auf ihre roten Linien achten. “Sollte es zu einer Ampel-Koalition kommen, wird die FDP dafür in Haftung genommen werden, wenn die Freiheit flöten geht”, so Müller. Den ganzen Kommentar können Sie hier lesen.
Heute gratulieren wir herzlich:
Beate Müller-Gemmeke, Grünen-Bundestagsabgeordnete, 61
Ursula Heinen-Esser, CDU-Politikerin und Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz in NRW, 56
Anja Reschke, deutsche Fernsehjournalistin, 49
© ThePioneerSie sind ein Insider und haben einen vertraulichen Tipp, den Sie mit der Redaktion teilen wollen? Oder eine sensible Neuigkeit? Schicken Sie uns Ihre Informationen! Lesen Sie hier mehr darüber, wie sie mit uns Kontakt aufnehmen können.
Starten Sie gut in den Tag!
Herzlichst, Ihre