Krieg in der Ukraine

Mehr Militarisierung wagen

Teilen
Merken
© The Pioneer

Guten Morgen,

herzlich willkommen zur neuen Ausgabe Ihres Hauptstadt-Newsletters direkt von der Pioneer One.

Unsere Themen heute:

  • Kanzler Olaf Scholz schwört das Land auf eine neue Zeit ein - Deutschland rüstet auf und der Sozialdemokrat will dafür seiner Koalition und seiner Partei einiges zumuten. Was an einem historischen Wochenende in Berlin geschah.

  • Wofür könnten die 100 Milliarden Euro ausgegeben werden? Stimmen von Generälen, Politikern und dem scheidenden Chef der Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger.

  • Altkanzler Gerhard Schröder will seine Mandate in russischen Unternehmen nicht abgeben, der Druck auf ihn aus der SPD wächst.

  • Erste CDU-Politiker fordern die Wiedereinführung der Wehrpflicht und die Ausweitung der nuklearen Teilhabe.

Die militärische Wende

Es ist Sonntagvormittag, als der Kanzler eine der wohl schwerwiegendsten sicherheitspolitischen Wenden in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands einleitete.

"Wir erleben eine Zeitenwende", sagte Olaf Scholz im Bundestag.

Und weiter:

Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.

Dies bedeutet im Einzelnen:

  • Der Bundeshaushalt 2022 soll einmalig mit einem Sondervermögen Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Modernisierung der Streitkräfte ausgestattet werden.

  • Das Zwei-Prozent-Ziel der Nato soll dauerhaft im Etat abgesichert werden.

  • Die nukleare Teilhabe der Bundesrepublik bleibt.

Das Pioneer-Hauptstadtteam rund um unsere Kollegen Rasmus Buchsteiner, Marina Kormbaki und Christian Schweppe hat mit uns die Ereignisse rekonstruiert.

Den Plan für die Wende hatte Scholz mit seinen engsten Vertrauten am Freitag und Samstag entwickelt.

Am Freitagvormittag kommt im Kanzleramt eine Staatssekretärsrunde zusammen, die über eine Ausweitung der erst wenige Stunden zuvor beschlossenen Sanktionen gegen russische Banken diskutiert.

In dieser Runde nimmt die Einigung auf eine „gezielte“ Einschränkung von Swift Gestalt an.

Parallel wächst der Druck, auch militärisch mehr zu tun.

Bei den Grünen wirbt Vizekanzler Robert Habeck seit seiner Reise ins Frontgebiet im Mai 2021 intern für Waffenlieferungen. Doch öffentlich trug Habeck zuletzt das Nein der Bundesregierung mit.

Am vergangenen Donnerstag aber, als Russland die Ukraine überfällt, beschließt Habeck, sich nicht mehr zurückzuhalten.

Habeck drängt in der Bundesregierung auf einen Kurswechsel. Annalena Baerbock schwenkt am Freitag um. Die russische Aggression zerstört die letzten Hoffnungen auf eine diplomatische Lösung der Krise unter deutscher Vermittlung - bisher der Hauptgrund für ihr Nein zu Waffenlieferungen.

Habeck und Baerbock verkünden am Samstagabend gemeinsam via Twitter ihr Ja zur Ausweitung der Bankensanktionen und zu Waffenlieferungen - es soll ein Zeichen grüner Geschlossenheit sein, nachdem beide lange gegensätzliche Positionen vertraten.

Partei- und Fraktionsführung sind über den Paradigmenwechsel in der Außenpolitik der Partei mit pazifistischen Wurzeln informiert; sie tragen ihn mit.

Ausgerechnet die Grünen sind innerhalb der Ampel die Treiber in der Debatte über Waffenlieferungen.

Habeck und Baerbock versuchen am Samstag in Telefonaten auch Scholz umzustimmen; verweisen darauf, dass lang gehegte Prinzipien vor der Wirklichkeit in der Ukraine keinen Bestand mehr hätten.

Schließlich führt die Anfrage der Niederlande nach Ausfuhr von 400 Panzerfäusten aus deutscher Produktion Scholz vor Augen, dass das Waffen-Veto nicht mehr zu halten ist.

Die militärische Wende kommt. Scholz telefoniert mit Finanzminister Christian Lindner, der den Kurswechsel der SPD begrüßt. Die Idee, erneut ein Sondervermögen zu bilden, dieses aber mit Hilfe der Union im Grundgesetz abzusichern, kommt angeblich von ihm.

Auch Verteidigungsministerin Christine Lambrecht wird seit Tagen in internen Runden von ihren Generälen zum Handeln gedrängt - und setzte sich am Samstag an die Spitze der Bewegung für eine sicherheitspolitische Offensive.

Kommandeur Andrä empfängt Ministerin Lambrecht in Rukla, Litauen  © Bundeswehr

Scholz geht am Samstagabend in die Offensive, und kündigt die Ausfuhr von 1000 Panzerabwehrwaffen und 500 Stinger-Raketen an.

Danach schaltet sich das SPD-Präsidium zusammen. Es ist der Moment, an dem der Kanzler seine Partei auf die neue Zeit einschwört. Das Präsidium trägt die Schritte mit.

Ein entscheidender Faktor für den Kursschwenk: Der Druck auf die Bundesregierung wegen des deutschen Widerstands gegen den Ausschluss Russlands aus dem Swift-Abkommen wurde größer. Reihenweise waren in den vergangenen Tagen skeptische EU-Staaten umgekippt, auch Italien und Ungarn waren nun für den Swift-Ausschluss.

Die Bundesregierung drohte als Hüter eigener Wirtschaftsinteressen zu erscheinen - statt sich auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen wirklich einzulassen.

In den Reihen der SPD- und der Grünen-Bundestagsfraktion gibt es dennoch Unmut über den Kursschwenk. Einige Abgeordnete sind gegen eine neue Militarisierung, hören wir.

Der SPD-Parteilinke Ralf Stegner sagte uns:

Es ist richtig, dass wir gemeinsam handeln. Aber ich bleibe bei meiner Skepsis gegenüber Waffenlieferungen.

Auch sei es richtig, die Bundeswehr besser auszustatten.

"Aber dass unsere ganze Sicherheitspolitik der letzten Jahre auf einmal revidiert werden soll - das finde ich falsch", so der Außenpolitiker.

Eine Infografik mit dem Titel: Die Verteidigungsausgaben wichtiger Nato-Mitglieder

So hoch sind die Verteidigungsausgaben ausgewählter Nato-Länder gemessen am Bruttoinlandsprodukt.

Bereits 2022 rund 17 Milliarden Euro zusätzlich für Verteidigung

Bereits in diesem Jahr sollen die Ausgaben für Verteidigung um ein Drittel angehoben werden - auf rund 67 Milliarden Euro.

Das wurde Pioneer-Chefkorrespondent Rasmus Buchsteiner am Sonntag in Regierungskreisen bestätigt.

Um die Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben, sollen bereits 2022 etwa 17 Milliarden Euro zusätzlich für die Bundeswehr bereitstehen.

Scholz hatte ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro angekündigt, das mit einer Grundgesetzänderung abgesichert werden soll. Dafür wird eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat benötigt.

„Wir können mit dem Sondervermögen in den nächsten Jahren alles finanzieren, was sinnvoll und lieferbar ist“, sagte uns Florian Toncar (FDP), Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium.

„Die neue Situation wird es ganz sicher noch stärker erforderlich machen, jetzt sparsam zu wirtschaften und im Haushalt die richtigen Prioritäten zu setzen.“

Florian Toncar, PSt im Finanzministerium.  © dpa

Lesen Sie hier, wie der Kurswechsel in der Sicherheitspolitik, im Haushalt abgebildet werden soll.

So soll das Bundeswehr-Sondervermögen funktionieren

Milliarden für die Rüstung: Die Truppe erhält, was ihr lange verwehrt wurde.

Artikel lesen

Veröffentlicht in Hauptstadt – Das Briefing von Rasmus BuchsteinerChristian Schweppe.

Artikel

Kritik an Lambrecht: "Nahm sich erstmal eine Auszeit"

Die militärpolitische Offensive des Bundeskanzlers hat in der Truppe Überraschung und Diskussionen ausgelöst. Schließlich ist eine Reform und eine angemessene Ausstattung seit Langem eine Forderung der Bundeswehr.

„Wir haben jetzt eine historische Sitzung im Bundestag erlebt“, sagte uns ein deutscher General mit viel Amtserfahrung.

Das sehen viele innerhalb der Truppe so, doch da ist auch eine Menge Verbitterung, erfuhr unser Kollege Christian Schweppe aus den Reihen des Militärs.

Christine Lambrecht © dpa

Denn schon seit 2014 gab es Neuplanungen für die Bundeswehr. Seit dieser Zeit arbeitet man an der Vollausstattung – es gibt sie bis heute aber nicht. Im Zweifel ist aktuell nur der deutsche Teil der Nato-Speerspitze VJTF vollausgestattet und gut trainiert.

Experten gehen trotz der Ankündigung des Bundeskanzlers davon aus, dass die Ausplanung der angekündigten Finanzmittel durch die Ministerien etwas dauern könnte:

"Zeitenwende wird nicht an einem Tag gemacht."

Es sei schade, dass es für die Wende erst einen Krieg gebraucht habe, hörten wir mehrfach aus Bundeswehrkreisen.

Kritik kommt immer wieder auch an Christine Lambrecht (SPD).

„Die neue Ministerin hat sich erstmal ein paar Monate Auszeit genommen, als sie das Amt übernahm und Reformen gestoppt. Für eine Bestandsaufnahme haben wir jetzt aber keine Zeit.“

Ischinger: Neuen Militärflieger FACS priorisieren

Der scheidende Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, hat die Bundesregierung aufgerufen, mit den versprochenen Milliarden für die Bundeswehr vor allem die "bestehenden eklatanten Lücken" bei den Waffensystemen aufzufüllen.

Es kann nicht sein, dass Heereseinheiten sich Gerät bei anderen ausleihen müssen.

Wolfgang Ischinger © dpa

Der frühere Botschafter in Washington und London erinnerte an den Nato-Beschluss von 2014, wonach 20 Prozent der Verteidigungsausgaben in Waffen (inklusive Forschung & Entwicklung) investiert werden sollten.

"Dabei muss die Bundesregierung Zukunftstechnologien priorisieren", sagte uns Ischinger.

Außerdem müssten die Ausgaben europäisch abgestimmt werden, damit es eine Arbeitsteilung bei den Fähigkeiten in der EU gebe, das so genannte "pooling and sharing".

Ein wichtiges Element könnte auch das Großprojekt Future Air Combat System (FACS) sein, der neue Militärjet, der von Frankreich und Deutschland entwickelt werden, allerdings nach den bisherigen Planungen erst 2040 einsatzbereit sein soll.

CDU-Politiker für Wiedereinführung der Wehrpflicht

Der stellvertretende CDU-Fraktionschef im NRW-Landtag und Oberstleutnant der Reserve, Gregor Golland, hat als Antwort auf die neue Sicherheitslage die Wiedereinführung der Wehrpflicht gefordert.

"Die Aussetzung der Wehrpflicht war gesellschafts- und sicherheitspolitisch ein kapitaler Fehler. Die Entfremdung zwischen Bevölkerung und Armee ist viel größer geworden, die Identifikation mit den eigenen Soldaten hat massiv abgenommen", schreibt Golland in einem Gastbeitrag für The Pioneer.

"Wir brauchen wieder den Staatsbürger in Uniform, der militärisch ausgebildet und wehrhaft ist. Jeder junge Mensch, ob Mann oder Frau, kann ein achtzigstel seiner Lebenszeit für dieses Land und seine Werte einbringen." Allerdings würde es mindestens zwei Jahre dauern, bis das Land wieder eine "funktionierende Bürgerarmee" habe. "Also müssen wir jetzt damit anfangen."

Außerdem fordert der CDU-Politiker die Ausweitung der nuklearen Teilhabe durch neue Trägersysteme, einen Nationalen Sicherheitsrat und einen neuen Generalstab.

Gollands sieben Forderungen für eine neue Sicherheitsarchitektur lesen Sie hier.

7 Schritte zu einer neuen Wehrhaftigkeit

Raus aus der Naivität, rein in die Realität. Deutschland braucht wieder die Wehrpflicht.

Artikel lesen

Veröffentlicht in The Pioneer Expert von Gregor Golland.

Artikel

SWIFT: Union liebäugelte mit eigenem Antrag

Die Nacht vor der Sondersitzung im Bundestag am Sonntag war in allen Parteien lang. Zwischenzeitlich sah es in der Unionsfraktion so aus, als würde man sich doch zu einem eigenen Entschließungsantrag durchringen und damit vom Kurs der Regierung abrücken – trotz des angekündigten Schulterschlusses.

Der Grund: eine intern harte Debatte um die Ausweitung der Sanktionen zum SWIFT-Ausschluss Russlands.

Entwurf des Antrags © The Pioneer

Am Ende blieb die Union auch auf Druck des neuen Fraktionschefs Friedrich Merz an der Seite der Regierungsfraktionen, man finalisierte den Antrag, mitsamt SWIFT-Passus.

Gerhard Schröder will Mandate behalten

Trotz der Aufforderungen von Parteifreunden in Niedersachsen und im Bund will Altkanzler Gerhard Schröder zunächst offenbar nicht seine Ämter in den Aufsichtsräten von russischen Energieunternehmen abgeben.

"Gerd ist da stur. Er hat gesagt, was er aus seiner Sicht zu sagen hatte zum Krieg Putins", sagt einer, der unlängst mit ihm sprach.

Schröder hatte in einem Post auf LinkedIn der russischen Regierung die Verantwortung für die militärische Auseinandersetzung zugewiesen. Auch SPD-Chef Lars Klingbeil forderte Schröder auf, seine geschäftlichen Beziehungen zu Russland zu kappen. Dies soll angeblich an diesem Montag auch im Parteivorstand beschlossen werden.

Seinen Podcast Die Agenda mit zuletzt 1 Million Abrufen will Schröder zunächst pausieren, heißt es. Interviewanfragen lehnt er ab.

Bundeskanzler a.D. Gerhard Schröder © Imago

Das Bundeskabinett hat am vergangenen Mittwoch zwei Neueinstufungen auf die Besoldungsstufe B9 für Beamte des Justizministeriums vollzogen. Peter Schantz (Abteilungsleiter Politische Planung) ist ab sofort Ministerialdirektor in der Einstufung. Gleiches gilt für Ivo Thiemrodt (Abteilungsleiter Justizverwaltung).

Auch die Einstufung des stellvertretenden Regierungssprechers Wolfgang Büchner auf das außertarifliche Entgelt der Besoldungsgruppe B10 hat das Bundeskabinett am vergangenen Mittwoch beschlossen.

Am 9. März 2022 - übernächsten Mittwoch - will das Bundeskabinett die Haushaltsplanung für das laufende und für die nächsten Jahre auf den Weg bringen.

In Koalitionskreisen hieß es am Sonntag, bis dahin könnten auch die Pläne für das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für eine bessere Ausrüstung der Bundeswehr festgezurrt sein.

Zunächst wollen SPD, Grüne und FDP mit der Union über die dafür erforderliche Grundgesetzänderung sprechen.

© The Pioneer

Auf - Olaf Scholz. Eine historische Rede hielt der Bundeskanzler gestern. Der Sozialdemokrat will die Verteidigungspolitik neu justieren, robuster, ehrlicher machen. Auf den Spuren von Helmut Schmidt. Damit hat Scholz sein historisches Projekt schon kurz vor der 100-Tage-Bilanz seiner Regierung gefunden: Deutschlands Rolle in der Welt. Respekt für den mutigen Schritt, der auch in der SPD vielen viel abverlangen wird.

Ab - Manuela Schwesig. Die Nordost-Ministerpräsidentin muss mit der Absage der Bundesregierung an Nord Stream 2 ein wichtiges Projekt begraben, das in ihrem Bundesland stattfinden sollte. Die eigens gegründete Stiftung zur Abwicklung des Geschäfts soll ins Visier der Sanktionen geraten, wenn es nach der Opposition im Schweriner Landtag geht. Schwesig ist unsere Absteigerin.

Unabhängige Berichte über den Krieg in der Ukraine und die Vorkommnisse vor Ort sind eine Seltenheit. Eine der wichtigen Stimmen im Land ist die Kiewer Online-Zeitung Kyiv Independent die rund um die Uhr über die Bombardements, die Schusswechsel und die Kämpfe im Land berichtet. Hier geht es zu dem Angebot.

Oft kam die Regierung in der Russlandkrise einen Schritt zu spät, analysiert Ferdinand Otto für Die Zeit. Jetzt aber habe Olaf Scholz eine revolutionäre Rede gehalten "und führt das Land außenpolitisch auf die Höhe der Zeit". Den ganzen Kommentar des Kollegen gibt es hier.

Heute gratulieren wir herzlich:

Verena Bentele, Präsidentin VdK, ehem. Biathlon-Weltmeisterin, 39

Klaus-Peter Willsch, CDU-Bundestagsabgeordneter, 61

Matthias Seestern-Pauly, FDP-Bundestagsabgeordneter, 38

© The Pioneer

Wir wünschen Ihnen einen elanvollen Start in diesen Donnerstag!

Herzlichst,

Ihre

Pioneer Editor, Gründungs-Chefredakteur The Pioneer
Pioneer Editor, Ex-Stellvertretender Chefredakteur The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Gründungs-Chefredakteur The Pioneer
  2. , Pioneer Editor, Ex-Stellvertretender Chefredakteur The Pioneer

Abonnieren

Abonnieren Sie den Newsletter Hauptstadt – Das Briefing