Willkommen zurück bei unserer Rangliste der deutschen Politik.
Wir sagen an dieser Stelle zunächst Dankeschön an mehr als 2600 Pioneers, die bei unserer Umfrage der besten, überzeugendsten und glaubwürdigsten Politikerinnen und Politiker des Jahres mitgemacht haben.
Für uns war dies bei aller Kritik auch ein Zeichen des Respekts und der Wertschätzung für Politiker, die in einem außergewöhnlichen Jahr besonders herausgefordert waren.
Und wir sagen Danke an Adriana Gießler, Rasmus Buchsteiner und unseren Illustrator Peter Gorzo, dass sie in der Weihnachtspause für dieses Briefing im Einsatz waren.
Im sechsten und letzten Teil unserer Rangliste geht es heute um die besten Finanz- und Wirtschaftspolitiker sowie die besten Fachpolitiker aus den "inneren" Politikbereichen Landwirtschaft, Innere Sicherheit, Arbeit und Soziales.
Los geht's:
© ThePioneerCarsten Linnemann ist so etwas wie der sanfte Rebell in der CDU. Der 43-jährige Sohn eines Buchhändlers aus Paderborn ist einer der wenigen Spitzenpolitiker, die in der eher führungsloyalen Regierungspartei CDU regelmäßig Kontra geben. Sein Leitbild ist eine Politik für mehr Wachstum und Wohlstand, erst dann kommt bei ihm Umverteilung.
Linnemann stimmte im Bundesvorstand der CDU gegen die Einführung der Grundrente und mahnte in der Corona-Politik zu mehr Sparsamkeit und Effizienz bei den Wirtschaftshilfen. Er spricht gerne Klartext, aber ist nie verletzend.
So kletterte der Chef der Mittelstandsunion (MIT) bis zum Vize-Chef der Unionsbundestagsfraktion empor, seit 2015 wird er mit Ergebnissen nahe 100 Prozent zum Vorsitzenden des Wirtschaftsflügels gewählt. Er gilt als enger Vertrauter von Jens Spahn, hat sich im Rennen um den Vorsitz der CDU aber hinter Friedrich Merz gestellt, der im MIT-Vorstand sehr großen Rückhalt genießt.
Carsten Linnemann mit Angela Merkel, Annegret Kramp-Karrenbauer und Hermann Gröhe im Bundestags-Wahlkampf 2017 in Delbrück. © dpaDer promovierte Volkswirt lernte an der TU Chemnitz, arbeitete als Referent für den Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Norbert Walter, und ist Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung. Ein lupenreiner Wirtschaftsliberaler.
Aber nicht nur. In seiner ostwestfälischen Heimat gründete er eine Stiftung für benachteiligte Kinder, in Berlin gehören zu seinen Lieblingsthemen bessere Aufstiegschancen von Schülern mit Migrationshintergrund. Seine Forderung nach verpflichtenden Deutschkursen bei Vorschulkindern schlug im Sommer 2019 hohe Wellen, wurde von Fachleuten aber gelobt. Auch Vertreter des Sozialflügels schätzen das Konstruktive bei Linnemann. In einer neuen Bundesregierung trauen ihm nicht wenige ein Ministeramt, etwa Wirtschaft oder Verkehr, zu.
Bei der Bundestagswahl 2017 erzielte Linnemann in seinem Wahlkreis mit 53 Prozent das landesweit beste Erststimmenergebnis. In Paderborn ist der Wirtschaftspolitiker populär, in Heimat- und Schützenvereinen präsent, beim traditionellen Volksfest Libori Stammgast und als Dauerkarten-Inhaber und Vizepräsident des Fußballvereins SC Paderborn 07 bundesligatauglich. Manchmal stur, doch immer herzlich, heißt es im Paderborn-Lied - das passt gut zu Linnemann.
Die Pioneers wählen den Wirtschaftsfachmann auf Platz eins.
Wenn Sie an 2020 denken, welcher Moment fällt Ihnen als erstes ein?
Linnemann: Wie kurz nach dem ersten Lockdown im März mich nachts ein Schausteller anrief und mir mit zittriger Stimme sagte, dass er am Abgrund stünde.
Was war Ihr persönlich größter Erfolg, was hätten Sie gerne anders gemacht?
Linnemann: Die Verleihung des Wolfram-Engels-Preises hat mir sehr viel bedeutet, weil ich zum ersten Mal gemerkt habe, dass mein Engagement für die Soziale Marktwirtschaft gewertschätzt wird. Anders hätte ich gerne die Wirtschaftshilfen ausgestaltet - einfach und ohne große Abgrenzungsprobleme.
Wo steht Carsten Linnemann am Ende des nächsten Jahres?
Linnemann: Mitten im Leben.
Otto Fricke ist einer der kundigsten und erfahrensten Haushaltspolitiker im Bundestag. Seit 2002 gehört er dem Hohen Haus an - mit Ausnahme natürlich der APO-Zeit der Liberalen zwischen 2013 und 2017. Der 55-jährige Rechtsanwalt vom Niederrhein ist damit einer der wenigen in den Reihen der FDP-Fraktion, die auf der politischen Bühne in Berlin länger als Parteichef Christian Lindner unterwegs sind.
Zwischen 2005 und 2009 leitete Fricke den Haushaltsausschuss des Bundestages, nun ist er Chef-Haushälter seiner Fraktion - und Fan schwarz-gelber Koalitionen geblieben. In der Kartoffelküche, einem von ihm initiierten Gesprächskreis von Politikern aus Union und FDP, geht es darum, weitergehende Entfremdung beider Seiten zu vermeiden. Fricke wird im Parlament und in Talkshows als glänzender Redner geschätzt, er polarisiert nicht, er überzeugt lieber. In seiner Partei ist der 55-Jährige fast so etwas wie ein elder statesman.
Frickes Arbeit kommt an bei den Pioneers, sie wählen ihn auf den zweiten Platz.
Fabio De Masi ist ein eher ungewöhnlicher Linken-Abgeordneter: Einer, der Volkswirtschaft und internationale Beziehungen studiert hat. Einer, der sich in der Finanzwelt auskennt und fast einmal eine Banken-Karriere gemacht hätte. In den Regierungsfraktionen wird der stellvertretende Fraktionschef als Wirecard-Aufklärer gefürchtet, der keinerlei Rücksicht nimmt.
In der Opposition, insbesondere bei FDP und Grünen, schätzt man den 40-Jährigen Deutsch-Italiener als jemanden, mit dem Teamplay möglich ist. De Masi gilt als detailverliebt und dabei nicht verbissen. Er war einer der ersten, der die politische Dimension des Wirecard-Skandals verstanden hatte - und nun davon profitiert.
Ob der in Hessen als Sohn eines italienischen Gewerkschafters und einer deutschen Lehrerin in der Politik bleibt, ist jedoch ungewiss. Zu groß ist das Hadern mit der eigenen Partei.
Die Pioneers schätzen de Masis Arbeit - ein starker dritter Platz bei den Wirtschafts- und Finanzpolitikern.
Eine Infografik mit dem Titel: Die besten Fachpolitiker aus den Bereichen Wirtschaft und Finanzen
Die Rangliste der deutschen Politik, Abstimmungen von 2600 Pioneers, Anteil für Politiker/in in Prozent
Die Finanz- und Wirtschaftspolitik ist die Königsdisziplin im Bundestag. Wer über das Geld bestimmt, bestimmt die Leitlinien der Politik. Und im heraufziehenden Bundestagswahljahr dürfte das Thema Wohlstand von morgen und die Frage, wer zahlt für die Krise, das umkämpfte Thema sein.
Unsere Rangliste zeigt, dass die Union bei dem Thema einen Kompetenzvorsprung hat, zugleich mit Linnemann und dem FDP-Haushälter Fricke zwei der erfahrensten Wirtschaftspolitiker nach oben gewählt wurden.
Ein Überraschungssieger ist Fabio de Masi, der Linken-Haushaltspolitiker, der mit Akribie und Fachwissen glänzt und sich so Reputation erarbeitet hat.
Als erster Sozialdemokrat landet der Fraktions-Geschäftsführer Carsten Schneider auf einem guten Platz sechs. Der Bankkaufmann aus Erfurt ist seit 1998 im Bundestag und gilt für viele immer noch als Bastion in der Finanzpolitik der SPD. Die Grünen holen auf dem wirtschaftspolitischen Terrain mit Dieter Janecek (Platz 7) und Sven-Christian Kindler allerdings rasant auf (Platz 9).
© ThePioneerCem Özdemir ist ein echtes Phänomen in der deutschen Politik. Früh war der Schwabe türkischer Herkunft ein Spitzenpolitiker bei den Grünen, als innenpolitischer Sprecher trat er nach einer Darlehens- und Bonusmeilenaffäre im Jahr 2002 ebenso früh zurück. Die Karriere schien beendet, bevor sie richtig begann.
Über den Umweg Europapolitik ging es dann aber Schritt für Schritt zurück in die Bundesspitze. Lange war Özdemir der einzige Spitzenpolitiker in Deutschland mit einem Migrationshintergrund - schwäbisch, wie er oft scherzte - lange war er so Vorreiter und Vorbild. Zuweilen schien es, als sei Özdemir seiner Zeit voraus.
Der Aufstieg der Grünen begann nach Özdemirs Zeit
Als Spitzenkandidat der Grünen fuhr die Partei mit einem einstelligen Ergebnis 2017 weniger als erhofft ein. Und so richtig bergauf ging es im Bund dann erst mit dem Wechsel zu Annalena Baerbock und Robert Habeck. Seitdem stellt sich mancher die Frage, welches die Rolle des talentierten Özdemir bei den neuen Grünen ist.
Im Bundestag wurde er Vorsitzender des Verkehrsausschusses und damit bleibt er eigentlich unter seinen Möglichkeiten. Aber Partei- und Fraktionsspitze sind besetzt und in Baden-Württemberg heißt der Ministerpräsident und Spitzenkandidat der Grünen für die Landtagswahl noch immer Winfried Kretschmann.
Cem Özdemir von den Grünen. © dpaMinistrabel ist Cem Özdemir, das steht außer Frage. Aber der Proporz wird es ihm als Realo-Mann nicht leicht machen.
Wie wichtig Özdemir für die Grünen ist, zeigt sein Sieg in dieser Umfrage unter den Pioneers. Mit dem ersten Platz holt er den Sieg unter den Fachpolitikern zu den Grünen - in einer umkämpften Kategorie.
Wenn Sie an 2020 denken, welcher Moment fällt Ihnen ein?
Özdemir: Ganz persönlich der Moment, als ich im März ganz am Anfang der Pandemie von meinem positiven Corona-Test erfuhr und mir als erstes Sorgen durch den Kopf schossen, was das für meine Familie, Freundinnen und Freunde und mein Team heißt. Haben sie sich angesteckt, hoffentlich trifft es niemanden härter? Wir hatten Glück. Abseits von Corona sicher die Nachricht, dass Biden und Harris in den USA doch die Wahl gewonnen haben. Das war eine große Erleichterung. Ich hoffe auf einen Neustart in der Klimapolitik, aber auch einen Neustart für eine Rückkehr der liberalen Demokratien.
Was war Ihr persönlich größter Erfolg, was hätten Sie gerne anders gemacht?
Özdemir: Das war nicht im Verkehrsbereich, da ist es bei Andreas Scheuer schwierig, auch wenn wir da zum Beispiel in Sachen Personenbeförderungsgesetz einiges verbessern konnten. Besonders froh bin ich, dass es auf unsere Initiative hin gelungen ist, einen interfraktionellen Beschluss zum Verbot der nationalistischen türkischen sogenannten „Grauen Wölfe“ im Bundestag herbeizuführen. Das ist ein ganz wichtiger Erfolg und da bin ich stolz drauf.
Mir liegt sehr viel daran, deutlich zu machen, dass die Grünen einerseits die liberale Demokratie national wie international stärken und ausbauen wollen, gleichzeitig aber auf die wehrhafte Demokratie setzen und nicht naiv sind im Kampf gegen ihre vielfältigen Gegner innen wie außen. Da ist manchmal Härte gefragt, mit der wir uns viel zu lange schwer getan haben Deutschland, wenn ich an den Umgang mit Rechtsradikalismus und Islamismus denke. Ich würde die Sicherheitsbehörden gerne so umbauen und modernisieren, dass sie für das 21. Jahrhundert gewappnet sind und von unseren Gegnern ernst genommen werden.
Wo steht Cem Özdemir am Ende das nächsten Jahres?
Özdemir: Am Ende des nächsten Jahres wird für rumstehen nicht viel Zeit bleiben, da wir uns dann hoffentlich als Regierungspartei mit Annalena Baerbock und Robert Habeck an der Spitze an die Arbeit machen, die ökologische Modernisierung unseres Wettbewerbsstandortes Deutschland umzusetzen. Und vorher will ich tatkräftig mithelfen, dass mein Ministerpräsident Winfried Kretschmann und die Grünen im Südwesten erneut stärkste Kraft werden.
Was für ein Jahr für den Gesundheitsexperten Karl Lauterbach. Am Ende des vergangenen Jahres scheiterte er mit seiner Kandidatur für den SPD-Vorsitz, danach schien er mehr verloren als gewonnen zu haben. Dann kam Corona - und es begann die Zeit des Schattengesundheitsministers und Schattenchefvirologen Karl Lauterbach - der eigentlich gar keine gesundheitspolitische Funktion mehr inne hat.
Aber Fachwissen hat er - und das war in den vergangenen Monaten gefragt wie selten zuvor.
Der 57-Jährige analysierte die Pandemielage präzise und nicht parteipolitisch gesteuert und wurde so auch in Kanzleramt und Regierung ein wichtiger Ansprechpartner.
Lauterbachs Verhältnis zur SPD bleibt ambivalent
Lauterbach vertrat stets eine harte Linie in der Corona-Politik, wurde aber nie dogmatisch. Erstaunlich bei seiner Präsenz ist, dass die SPD so wenig Nutzen aus seinem Fachwissen gezogen hat: ein eigener Podcast, ein eigenes Wissensformat, all das wäre sicher möglich gewesen. Aber das Verhältnis zwischen Lauterbach und seiner Partei bleibt ambivalent.
Das schafft, auf der Habenseite, Unabhängigkeit. Und die wird geschätzt. Karl Lauterbach landet auf dem zweiten Platz bei den Fachpolitikern unserer dritten Kategorie "Inneres".
Wenn in den Hinterzimmern der Berliner Republik über die Zukunft der FDP nach Christian Lindner diskutiert wird, fällt immer wieder der Name Johannes Vogel. Der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiker der FDP gehört zu den beliebtesten Liberalen im Land - und findet Anerkennung auch beim politischen Gegner.
Vogel ist einer, der sich mit Fachwissen profiliert, Ideologie ablehnt und mit klugen Vorstößen einer aktivierenden und präventiven Sozialpolitik ein Feld beackert, das man bei den Liberalen eher nicht vermutet. Für SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil ist er der wichtigste Gegenspieler im Parlament. Vogel wird ernst genommen.
Johannes Vogel ist wie Lindner im bergischen Städtchen Wermelskirchen aufgewachsen, doch hat der frühere Chef der Jungliberalen seine Eigenständigkeit bewahrt und in den vergangenen beiden Jahren konsequent ausgebaut. Vogels Kritik an der Wahl eines FDP-Ministerpräsidenten in Thüringen mit Stimmen der AfD kam schnell und war glaubwürdig, sein Netzwerk in der Partei ist gut. Der niedersächsische Innenpolitiker Konstantin Kuhle und der einflussreiche NRW-Landeschef Joachim Stamp gehören zu seinen Vertrauten. Bei den Wirtschaftsliberalen wird der 38 Jahre alte frühere Geschäftsleiter der Bundesagentur für Arbeit in Wuppertal skeptisch beäugt - für sie ist Vogel zu links.
Doch in der künftigen Aufstellung der Partei wird man an dem erfahrenen Bundestagsabgeordneten nicht vorbeikommen, und die Pioneers ahnen das. Sie wählen ihn auf Platz drei.
Eine Infografik mit dem Titel: Die besten Fachpolitiker aus den Bereichen Landwirtschaft, Arbeit, Soziales und Innen
Die Rangliste der deutschen Politik, Abstimmungen von 2600 Pioneers, Anteil für Politiker
Zunächst entschuldigen wir uns höflich bei Ihnen für die Undefinierbarkeit dieser Kategorie. Der Bereich "Inneres" umfasst all jene Fachpolitiker, die nicht in den eher geschlossenen Bereichen Außen und Finanzen aktiv waren - und durch ihre Arbeit im vergangenen Jahr besonders aufgefallen sind.
Mit Verkehrspolitiker Özdemir, Gesundheitsexperte Lauterbach, Sozialpolitiker Vogel und Innenexperte Konstantin von Notz teilen sich die ersten Plätze Politiker völlig unterschiedlicher Fachbereiche. Auch auffällig: Erst auf dem fünften Platz folgt mit Landwirtschaftspolitikerin Gitta Connemann die erste Unionspolitikerin in der Rangliste.
Die Gewinner Cem Özdemir und Karl Lauterbach sind zwei Politiker, die polarisieren. Man mag sie oder nicht, schätzt sie oder schaltet um, wenn sie im Fernsehen auftauchen. Aber Özdemir und Lauterbach sind echte Marken in der deutschen Politik geworden - und das wird offenbar überparteilich geschätzt.
Ab Montag, den 4. Januar, lesen Sie an dieser Stelle wieder unseren ganz normalen Hauptstadt-Newsletter, mit Fakten, Analysen und vor allem Insider-Informationen.
Schon jetzt arbeiten wir daran, dass Sie vorab erfahren, was Regierung und Parlament in der Corona-Politik nach dem 10. Januar planen.
Starten Sie gut in das neue Jahr!
Herzlichst,
Ihre