Von den Grenzen der Kurzarbeit und kollektiver Realitätsverweigerung

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© The Pioneer

Guten Tag,

wie schön, dass Sie wieder dabei sind.

Heute möchte ich mit Ihnen über Kurzarbeit sprechen. Wie verändern die Corona-Folgen unseren Arbeitsmarkt? Was folgt auf die ersten Coronahilfen und welche Maßnahmen müssen verlängert werden?

Außerdem geht es um die Anti-Corona-Demonstrationen vom Wochenende in Berlin und um eine ganz spezielle Tour an Bord der PioneerOne mit Gerhard Schröder.

Kurzarbeit, das war für mich immer ein Begriff, bei dem ich an stehende Fließbänder und leere Fabrikhallen denken musste. Auf dem Bau, in der Stahl- und Automobilindustrie - das waren die Branchen, in denen mal wegen konjunktureller Flauten, mal wegen ausbleibender oder wegfallender Arbeitsaufträge Angestellte Kurzarbeitergeld beziehen mussten.

Nun ist Kurzarbeit, dieses gefühlt traditionellste und deutscheste Instrument zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit, dessen Vorgänger - das sogenannte Kali-Gesetz - im Jahr 1910 implementiert wurde, eine der wichtigsten Maßnahmen im Kampf gegen eine Coronavirus bedingte Massenarbeitslosigkeit.

Doch dass Kurzarbeit in fast allen Branchen zur neuen Corona-Normalität gehört und eben nicht nur in bestimmten Industriezweigen zur Anwendung kommt, habe ich so richtig erst verstanden, als eine meiner besten Freundinnen davon betroffen war.

Sie ist ebenso wie ich Journalistin - allerdings in einem völlig anderen Ressort. Sie ist Sportredakteurin. Und in dieser neuen Corona-Welt, in der wochenlang keine Matches gespielt, Turniere abgesagt und Trainingslager verschoben wurden, tja, da gab es irgendwann für sie nichts mehr zu berichten. Eine Handball-Reporterin ohne Handball - der Verlag schickte sie in Kurzarbeit.

So war sie im Mai eine von 6,7 Millionen Menschen in Deutschland, die nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit in Kurzarbeit waren - die höchste jemals ermittelte Zahl von Kurzarbeitern in der Bundesrepublik.

Mit Kurzarbeit allein kommt man aus der Krise nicht heraus. Sie hilft, Jobs zu sichern. Sie hilft aber nicht, dass neue entstehen.

Prof. Enzo Weber, Forschungsbereichsleiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung

Doch wie soll es jetzt eigentlich weitergehen? Wenn wir uns daran gewöhnen müssen, mit diesen Virus zu leben, müssen wir uns dann auch gewöhnen, mit der Kurzarbeit zu leben?

"Mit Kurzarbeit allein kommt man aus der Krise nicht heraus. Sie hilft, Jobs zu sichern. Sie hilft aber nicht, dass neue entstehen." Das sagt Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit. Mit ihm hat mein Kollege Rasmus Buchsteiner darüber gesprochen, wie die Corona-Folgen unseren Arbeitsmarkt verändern.

Der Wirtschaftswissenschaftler sagt, dass es ohne eine Verlängerung der ausgeweiteten Kurzarbeit-Förderung nicht gehen werde - allerdings: "Klug wäre es aber, das Ganze mit Qualifikation zu verbinden und Kompetenzen weiterzuentwickeln." Lesen Sie hier dieses sehr interessante Interview, in dem die Frage aufs Tableau kommt, die eigentlich schon seit der Verabschiedung des Konjunkturprogramms durch unsere Köpfe schwirrt: Was passiert eigentlich danach? Nach den ersten Akut-Hilfen, nach dem Sommer, nach dem Winter, nach einer zweiten Welle, nach diesem Jahr?

Derweil stellt sich meine Freundin eine Frage, die vermutlich viele Menschen umtreibt, die sich derzeit in Kurzarbeit befinden: Was, wenn der Arbeitgeber in dieser Zeit merkt, dass es auch mit weniger Personal geht? Dass dann eben nicht mehr jedes Auswärtsspiel mit eigenem Personal besetzt, nicht jedes Trainingslager begleitet werden muss.

Ich weiß nicht, wie ich ihr diese Sorge nehmen soll.

Gute Bildung muss digitale Bildung sein. Das sagt Philip Elsen, ein ausgezeichneter Politik-Lehrer eines Berliner Gymnasiums. In der Corona-Pandemie ist der Unmut bei den Eltern über den ausgefallenen Unterricht groß, Homeschooling hat ihnen gezeigt, wie anspruchsvoll die Lehre sein kann. Was lernen die Schulen nun aus den Monaten der Corona-Krise? Auf ThePioneer.de schreibt Elsen über die Notwendigkeit einer konsequenten Digitalisierung des Klassenraums, ohne dass dabei das Persönliche zu kurz kommen muss. Seine These: "Der Bildungserfolg und damit die Zukunftschancen junger Menschen hängen eben nicht nur stark vom Geldbeutel und vom Bildungsgrad des Elternhauses ab, sondern auch von der Ausstattung und der Kompetenz der Familien beim Umgang mit den digitalen Medien." Zu dem lesenswerten Beitrag geht es hier entlang.

Der Historiker und Soziologe Rainer Zitelmann hat ein Buch über die Macht der Eigen-PR geschrieben. Mein Kollege Adrian Arab hat ihn deshalb zu den rasanten Aufstiegen von Greta Thunberg, Sahra Wagenknecht und Philipp Amthor befragt. Was macht ihren Erfolg aus? Und wie kann ein gelungenes Comeback gelingen? Hier finden Sie sein Gespräch.

Auch er hat ein neues Buch geschrieben: Hans-Werner Sinn, einer der bekanntesten Ökonomen Deutschlands. In "Der Corona-Schock – Wie die Wirtschaft überlebt" schreibt er nicht nur über eine verfehlte EU-Wirtschaftspolitik, sondern auch über Klimavorgaben, die dem Klima womöglich gar nicht nützen. Mein Kollege Christopher Ferner hat ihn interviewt und mit ihm über sein neues Buch, über EU-Strukturfonds und über die möglichen Auswirkungen einer zweiten Infektionswelle auf die deutsche Wirtschaft gesprochen. Lesen Sie hier das Interview.

Michael Bröcker und Altkanzler Gerhard Schröder im Juli an Bord der PioneerOne © The Pioneer / Anne Hufnagl

In dieser Woche haben Sie, wenn Sie mögen, drei Mal die Möglichkeit, uns an Bord der PioneerOne zu besuchen.

Los geht es morgen mit einem Politisches Sightseeing, bei dem Sie mein Kollege und The Pioneer-Chefredakteur Michael Bröcker auf eine politische Reise entlang des Berliner Spreebogens nimmt. Einstieg ab 16.30 Uhr, die Abfahrt ist pünktlich um 17 Uhr. Fahren Sie mit und löchern Sie uns gern mit all ihren Fragen über politische Insights, Journalismus und unser neues Medienprojekt. Hier gibt es noch Tickets.

Vielleicht gehören Sie aber auch zu den Glücklichen, die Tickets für das Politische Sightseeing tags darauf ergattert haben. Bei der Fahrt durch das Regierungsviertel am Mittwoch spricht der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder mit Michael Bröcker über sein Wirken in der Berliner Republik und erzählt Anekdoten aus seiner Amtszeit. Und so wie wir Gerhard Schröder kennen, dürfte das eine zutiefst tiefgründige wie auch kurzweilige Tour werden. Die Fahrt ist leider bereits ausverkauft.

Und zum Ende der Woche verwandelt sich unser Redaktionsschiff in einen Kinosaal - unsere Veranstaltungsreihe Floating Cinema geht in die nächste Runde: Am Freitag, 7. August, präsentiert Ihnen meine Kollegin Chelsea Spieker den Film "XY Chelsea". Der Dokumentarfilm erzählt die wahre Geschichte der Whistleblowerin, Ex-Soldatin und Transfrau Chelsea Manning. Nach dem Films diskutiert Chelsea Spieker an Bord der PioneerOne mit dem Manager des Whistleblower-Netzwerks, Thomas Kastning, mit der stellvertretenden Vorsitzende der LGBT-Anwaltgruppe Queer BW und ersten Transkommandantin in der Geschichte des deutschen Militärs, Anastasia Biefang, sowie dem Regisseur des Films, Tim Travers Hawkins. Sichern Sie sich hier Tickets für die Veranstaltung und und diskutieren Sie mit!

Teilnehmer der Kundgebung gegen die Corona-Beschränkungen dicht gedrängt auf der Straße des 17. Juni: Zur Demo gegen Corona-Maßnahmen hatte die Initiative «Querdenken 711» aufgerufen. © Christoph Soeder/dpa

Ist das noch Sommerloch oder schon kollektive Realitätsverweigerung? Tausende Menschen hatten sich am Samstag in Berlin auf der Straße des 17. Juni zu einer Demo eingefunden. Der Titel des Protests klang nach bedeutungsschwerem Action-Pathos: "Das Ende der Pandemie – Der Tag der Freiheit". Und in diesem Titel liegen die Spuren zu den drei wohl kritischsten Tendenzen dieser Bewegung.

1. "Das Ende der Pandemie" postulieren diese Menschen zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule und schienen davon auszugehen, dass die Pandemie eben zu Ende geht, wenn wir es denn nur wollen. Sie ist also kein medizinischer Fakt, der biochemischen Gesetzen folgt, sondern ein soziales, von Menschen - in den Augen vieler: von korrupten Eliten - gemachtes Konstrukt.

2. "Der Tag der Freiheit" heißt es. Das zeigt die sehr enge und eigentlich sehr traurige Definition dieser Menschen von Freiheit. So deuten sie ein Stück Stoff - die Alltagsmaske - zum Symbol der Unterdrückung um, an dessen Verweigerung der einzelne seinen vermeintlich freien Geist demonstriert. Was diese Freiheit noch bringt, wenn man mit Beatmungsschlauch auf der Intensivstation liegt, das vermag keiner von ihnen zu sagen.

3. Und letztlich geht es auch um den Horizont, genauer: den sehr beschränkten Horizont. Dieser verführt zu folgendem Fehlschluss: Ich habe kein Corona, ich kennen niemanden, der Corona hat, also gibt es auch kein Corona - und wenn überhaupt, dann nicht in einem Maße, das das Tragen von Masken und das Einhalten von Abstand rechtfertigt. There is no glory in prevention, sagen die Angelsachsen, vom Präventionsparadox sprechen die Wissenschaftler. Die Präventionsmaßnahmen sind (vermutlich) so wirkungsvoll, dass der Grund, weshalb sie ergriffen wurden, nicht mehr spürbar ist. Manche Menschen scheinen zu engstirnig, manche vielleicht zu denkfaul, um ihre Vorstellungskraft auf einen alternativen Ablauf der Geschehnisse zu lenken. Ohne Masken, Hygieneregeln und soziale Distanz hätte uns die Pandemie vermutlich sehr viel heftiger getroffen - dann hätten wir andere Probleme gehabt als unbequeme Maskenverordnungen.

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Ich wünsche Ihnen einen schönen - und horizonterweiternden - Start in den Tag!

Herzlichst, Ihre

Pioneer Editor, Stv. Chefredakteurin ThePioneer
  1. , Pioneer Editor, Stv. Chefredakteurin ThePioneer

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