Wissenschaftler zweifeln an Corona-Politik

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Guten Tag,

herzlich willkommen zu unserem Briefing aus der Hauptstadt - direkt von der Pioneer One.

Unsere Themen heute:

  • Neun Wissenschaftler und Gesundheitsexperten verlangen neue Kriterien für die Corona-Politik und eine bessere Kommunikation.

  • Das neue Terminal für die Regierungsflieger ist fertig, doch kaum einer hebt ab. Die Zahl der Flüge ist um die Hälfte gesunken.

  • Die SPD gibt ein Handbuch zum "Wahlkampfwissen" für Abgeordnete heraus. Wichtigste Botschaft: Kenne deine Stärken und präge dein Image.

Zweifel der Wissenschaftler

Neun prominente Wissenschaftler und Gesundheitspraktiker, darunter die früheren Mitglieder des Sachverständigenrats Gesundheit, Professor Matthias Schrappe und Professor Gerd Glaeske sowie der BKK-Chef Franz Knieps, fordern in einer Stellungnahme ein massives Umdenken in der Corona-Politik und einen stärkeren Fokus auf die Prävention bei Risikogruppen.

Man sehe sich gezwungen "auf besorgniserregende Fehlentwicklungen" hinzuweisen, heißt es in dem Papier, das sich explizit auf die Beschlüsse der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin vom 14. Oktober bezieht. Die Fehlentwicklungen beträfen die Bereiche Epidemiologie, Präventionskonzept und gesellschaftspolitische Implikationen.

Republik im Corona-Modus © The Pioneer

Die Forscher kritisieren das Fixieren auf die Zahl der Neuinfektionen. Man brauche vielmehr verlässliche repräsentative Daten zu bestimmten Bevölkerungsgruppen, außerdem müsste die Sterblichkeit der Patienten sowie die Intensivkapazitäten berücksichtigt werden.

Die Zahl von 35 oder 50 Fällen pro 100.000 Einwohnern als Grenzwert für Maßnahmen, kritisieren die Autoren wegen der hohen Dunkelziffer bei der nicht-getesteten Bevölkerung als untauglichen Gradmesser zur Bekämpfung der Pandemie.

"Die wissenschaftlichen Daten zur Validität lassen sich hier schnell zusammenfassen: es gibt keine Daten, die aussagen, dass mit einem Grenzwert von x/100.000 Einwohner ein positiver Verlauf der Epidemie oder eine erfolgreiche Intervention verbunden ist."

Gerd Glaeske, Gesundheitsforscher an der Universität Bremen.  © dpa

Präventive Maßnahmen müssten auf Risikogruppen, etwa ältere Personen, ausgerichtet werden, diese aber nicht "auf Kosten von Humanität und Würde der Person gehen". Einschränkungen der Grundrechte seien "jederzeit hinsichtlich ihrer Verhältnismäßigkeit begründbar", eine Vermengung von Gesundheitsschutz und staatlichen Eingriffen wie etwa eine Standortbestimmung durch die Corona-App oder die Kontrolle von Besuchsregelungen im privaten Bereich sei "unter keinen Umständen statthaft".

Bei den Gipfelbeschlüssen überwiege der Eindruck, "dass die Verantwortlichen auf den immer gleichen Vorgehensweisen beharren und Maßnahmen sogar noch verstärken, an deren Wirksamkeit und Akzeptanz es aus wissenschaftlicher Sicht größte Zweifel geben muss."

Auch die politische Kommunikation wird kritisiert. In einer Epidemie führe der "anhaltende, als alternativlos konnotierte Bezug allein auf die Verantwortlichkeit der Einzelnen zu Ermüdung, Abwendung und Flucht in falsche Heilslehren". Dies gelte im Zusammenhang mit einer Drohkulisse, die "aus den impliziten Versatzstücken ,langdauernder Winter', ,Weihnachten im Lockdown' und ,es könnte für Sie kein Intensivbett mehr frei sein' zusammengesetzt sei.

In einer schlüssigen Risikokommunikation müssten Maßnahmen zeitlich begrenzt und nachvollziehbar sein. Außerdem habe die Runde verpasst den Fokus auf den „Schutz vulnerabler Gruppen“ zu legen und dies zum Leitgedanken zu machen.

1. Schäuble verlangt Rückkehr zur Schuldenbremse

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU), der als Finanzminister 2014 erstmals seit 1969 einen Bundeshaushalt ohne neue Schulden vorgelegt hatte, verlangt eine rasche Rückkehr zur Schuldenbremse nach der Pandemie.

"Sobald wir wirtschaftlich eine einigermaßen normale Situation haben, sollten wir die laufenden Ausgaben aus den laufenden Einnahmen decken", sagt Schäuble in einem bisher unveröffentlichten Interview im Mittelstandsmagazin der CDU/CSU. Das Magazin erscheint sechs Mal im Jahr und erreicht rund 25.000 Mitglieder der Mittelstandsunion.

"Nach John Maynard Keynes muss der Staat, um Schlimmeres zu verhindern, Schwankungen im Konjunkturverlauf ausgleichen und im Zweifel fehlende Nachfrage substituieren, notfalls auch durch Defizite", sagt Schäuble.

"Aber wenn die Zeiten wieder normal sind, muss der Staat genauso versuchen, wieder zu einem ausgeglichenen Haushalt zu kommen."

Er schlussfolgert:

Mein Rat an die Politik ist es, nicht den Eindruck zu erwecken, dass Geld auf Dauer unbegrenzt zur Verfügung steht.

In dem Interview äußert sich der frühere CDU-Vorsitzende auch über die Zukunft Europas nach der Pandemie. Schäuble verlangt weitere Schritte der Integration.

"Ich bin davon überzeugt, dass die Währungsunion ohne eine Wirtschafts- und Finanzunion auf Dauer nicht stabil sein kann."

Die finanziellen Mittel müssten zwar richtig eingesetzt sein, betont er. "Wenn Europa allerdings dafür eigene Schulden aufnehmen muss, was in der aktuellen Situation unvermeidlich und richtig ist, dann braucht Europa auch eigene Einnahmen, um die Schulden zurückzahlen zu können. Das ist ein Weg, um schrittweise zu einer Wirtschafts- und Finanzunion zu kommen."

2. Corona-Hilfe für Unternehmen bei 70 Milliarden Euro

Die finanzielle Unterstützung für Unternehmen in der Corona-Krise beläuft sich laut einer internen Auflistung des Bundeswirtschaftsministeriums auf inzwischen über 70 Milliarden Euro. Dazu gehören Direkthilfen in Form von Zuschüssen, Beteiligungen über den Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) sowie Kreditbürgschaften.

Eine Infografik mit dem Titel: Die Corona-Hilfen des Bundes

So hilft der Bund den Firmen in der Pandemie.

3. SPD erstellt Wahlkampfhandbuch für Kandidaten

Die SPD hat in einem neuen Handbuch zentrale Fragestellungen für eine erfolgreiche Wahlkampfarbeit für Bundestagskandidaten zusammengefasst und diese am vergangenen Mittwoch an die Abgeordneten verschickt.

Das Handbuch mit dem Titel "Das Wahlkampfwissen" hat Generalsekretär Lars Klingbeil mit den Experten der Agentur TheLeaderShip, Gwendolin Jungblut und Achim Moeller, erarbeiten lassen.

"Damit die SPD wieder weiß, was die SPD alles über Wahlkampf weiß, gibt es ,Das Wahlkampfwissen'. Es soll Dir helfen, erfolgreich im Wahlkampf zu sein", schreibt Klingbeil im Vorwort.

Das Handbuch ist eine Anleitung für einen professionellen Wahlkampf vor Ort und gliedert sich in die Kapitel Mein Persönliches Profil, Mein Wahlkreis, Mein Team, Meine Möglichkeiten und Mein Drehbuch.

Es geht etwa um das Persönliche, das in der Politik immer wichtiger werde, wie die Autoren betonen. Eine Stärkenanalyse sei unverzichtbar. Das Image, das Wähler von einem Kandidaten hätten, lasse sich nur auf Basis dieser Stärken entwickeln.

"Das Image ist eine Zuspitzung, die auf den Punkt bringt, wie Du wahrgenommen werden willst. Wähler*innen schenken vor allem den ersten Informationen, die sie über eine(n) Kandidat*in erhalten, einen hohen Wahrheitsgehalt."

Drei Grundsätze müsse man berücksichtigen, heißt es.

© ThePioneer

Glaubwürdigkeit werde vor allem durch die Herzensangelegenheit, ein Thema, das dem Kandidaten oder der Kandidatin wirklich wichtig sei, erzielt, heißt es.

"Menschen wählen bevorzugt Menschen, die für etwas stehen."

Für den Wahlkampf empfehlen die Autoren neben den klassischen Methoden wie Hauswurfsendungen und Flyer vor allem eine schlüssige Content-Strategie im Netz. Anleitungen für Twitter, Youtube, Telegram oder Instagram sind enthalten, empfohlen werden strategische Foto- und Videokampagnen in den sozialen Netzwerken und gezielte Social-Media-Werbung im Wahlkreis. Es gelte: "Sein heißt gesehen werden."

4. Nur noch halb so viele Regierungsflüge

Seit dieser Woche ist das neue Regierungsterminal am Hauptstadtflughafen BER eröffnet. Aber gebraucht wird es wegen der Corona-Pandemie viel weniger als kalkuliert. Im Jahr 2020 wurden bisher rund 120 sogenannte VIP-Einsatzflüge (Flüge etwa von Regierungsmitgliedern oder dem Bundespräsidenten) für den politisch-parlamentarischen Bereich durchgeführt, erfuhren wir von der Luftwaffe.

Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2019 transportierte die Flugbereitschaft etwa 280 Mal ihre wichtigsten Passagiere durch die Welt, im vergleichbaren Zeitraum (Januar bis September) waren es 240 Flüge.

Das Aufkommen hat sich damit halbiert - und das, obwohl bis März noch normal geflogen wurde.

Neu, aber kaum noch benötigt: Der diplomatische Teil des neuen Hauptstadtflughafens BER. © dpa

Auf Anfrage teilte uns die Luftwaffe mit: "Wir gehen davon aus, dass sich die coronabedingten Einschränkungen weiterhin auf den VIP-Einsatzflugbetrieb auswirken und damit weiterhin zu einer reduzierten Nachfrage führen."

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Die Europäische Kommission hat in einem Grundsatzpapier an das Parlament und den Rat die Strategie für das Jahr 2021 festgelegt. Dabei gehe es jenseits der europaweiten Suche nach einem Impfstoff gegen das Corona-Virus vor allem um den "historischen Wiederaufbauplan" Next Generation EU. Das Gesamtpaket umfasse 1,8 Billionen Euro, heißt es in der Vorlage der Kommission, die auf den 19. Oktober datiert ist und bisher nicht veröffentlicht wurde.

"Mit NextGenerationEU entscheidet sich Europa nicht nur dafür, die Schäden zu beheben, sich für heute zu erholen und die von der Krise am stärksten Betroffenen zu unterstützen, sondern auch eine bessere Lebensweise für die Welt von morgen zu schaffen und aufzubauen", heißt es etwa.

Der Schwerpunkt liege auf nachhaltigen Investitionen und Reformen, wobei 37 Prozent der Ausgaben für grüne Investitionen vorgesehen sind und mindestens 20 Prozent in die Digitaltechnik investiert werden sollen.

Darüber hinaus wird die Kommission sicherstellen, dass 30% der 750 Milliarden Euro der NextGenerationEU durch grüne Anleihen aufgebracht werden.

Strategiepapier der EU Kommission, Oktober 2020.

Neuer Versuch beim umstrittenen Lieferketten-Gesetz. Nächste Woche wollen Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) das Gesetz endlich durch das Kabinett bringen. Das Gesetz verpflichtet Unternehmen, entlang ihrer internationalen Wertschöpfungskette moralische Standards einzuhalten. Mittelstandsverbände laufen Sturm gegen das Gesetz, weil sie fürchten, ihre Sub- und Sub-Sub-Unternehmer nicht kontrollieren zu können.

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Auf - Saskia Esken hat eine ungewohnte Anfrage aus den USA bekommen und wird dafür in den sozialen Netzwerken gefeiert. Der US-Schauspieler Ashton Kutcher hatte via Twitter die SPD-Chefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans kontaktiert, und nach ihrer Positionierung zu einem EU-Kodex in Bezug auf die Privatsphäre missbrauchter Kinder gefragt. Kutcher setzt sich seit Jahren für missbrauchte Kinder ein, die EU plant schärfere Auflagen für Internet-Provider, um Beweismittel schneller sichern zu können. Esken antwortete prompt und öffnete ihren privaten Nachrichtenkanal für den Hollywood-Star. Nun hat die SPD-Chefin offenbar einen reichweitenstarken Verbündeten im Kampf gegen Kindesmissbrauch. Frau Esken ist unsere Aufsteigerin.

Ab - Verwirrung bei der FDP. Parteivize Wolfgang Kubicki kritisierte die Kanzlerin für ihre Videobotschaft zu den Corona-Maßnahmen ("verbreitet Angst und Schrecken"), kurz darauf forderten der Partei-Vorsitzende Christian Lindner und sein Generalsekretär Volker Wissing eine Fernsehansprache und eine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin im Bundestag: Es werde Zeit, dass sich die Kanzlern angesichts der hohen Infektionszahlen erkläre. Ja, was denn nun?

Alle schauen auf das Gesundheitssystem. Hält es der zweiten Welle der Corona-Patienten wirklich stand? Die beiden SZ-Autoren Werner Bartens und Rainer Stadler haben dem System einen Stresstest unterzogen und Defizite in Pflegeeinrichtungen entdeckt. Lesenswert!

Die Neuausrichtung der Agrarpolitik ist nicht gelungen: Die Landwirte werden auch weiterhin ohne Umweltauflagen subventioniert. Die Schuld daran triff nicht Frau Klöckner, sondern die Europäische Kommission in Brüssel findet FAZ-Korrespondent Hendrik Kafsack. Hier geht's zu seinem Kommentar.

Das Bundeskabinett hat den Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung des Verfassungsschutzrechts beschlossen. Ein längst "überfälliger Schritt im Kampf gegen Terroristen und militante Extremisten" sagte Horst Seehofer. Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass Nachrichtendienste in Deutschland Spähsoftware auf Smartphones oder Computern von Verdächtigen einschleusen dürfen. Anbieter für Telekommunikation sollen mithelfen. Brandgefährlich findet das Zeit-Redakteurin Lisa Hegemann, denn ein nachvollziehbarer Zweck heilige noch nicht alle digitalen Mittel. Hier lesen.

Heute gratulieren wir herzlich zum Geburtstag:

Patrick Adenauer, Chef des Family Business Networks und früherer Präsident der Familienunternehmer ASU, 60

Frank Imhoff, CDU-Politiker und Präsident der Bremischen Bürgerschaft, 51

Er war mal Staatssekretär unter SPD-Finanzminister Peer Steinbrück, später Präsident der Europäischen Bank für Wiederaufbau. Nun widmet sich der 67 Jahre alte frühere SPD-Politiker Thomas Mirow als Buch-Herausgeber den Gräben im öffentlichen Diskurs. Es geht um den verbalen Kampf zwischen Demokraten und Populisten, Arm und Reich, Ost und West.

In dem Werk Trotzdem. Was uns zusammenhält erläutern unter anderem ThePioneer-Expert, die Publizistin Marina Weisband, Historiker Heinrich August Winkler und IW-Direktor Michael Hüther, was die Nation zusammenhält. Man darf gespannt sein.

Das Buch erscheint am 17. November im Murmann-Verlag.

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Das Europäische Parlament hat den Sacharow-Preis für geistige Freiheit (auch EU-Menschenrechtspreis genannt) an die belarussische Opposition verliehen. David McAllister (CDU) ist Chef des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament und sagt hier, warum das eine gute Entscheidung ist.

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Pioneer Editor, Gründungs-Chefredakteur The Pioneer
Pioneer Editor, Ex-Stellvertretender Chefredakteur The Pioneer
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